Familienroman – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Fri, 06 Feb 2015 11:36:57 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Essay (2) https://der-siebte-sprung.de/rendez-vous-2-7tersprung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rendez-vous-2-7tersprung Tue, 04 Mar 2014 08:40:29 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=306 ]]> Aus Ulrike Draesners Reisenotizbuch #7terSprung

Teil 2 von Ulrike Draesners Essay zum Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Teil 1 finden Sie hier.

Sabine Bodes vor knapp zehn Jahren erstmals veröffentlichte Interviews mit Kriegskindern, Menschen der Jahrgänge 1930 bis Anfang der 40er Jahre, die die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg mit all seinen Folgen als Kinder bzw. Jugendliche erlebten, halfen mir weiter. Vieles von dem, was ich las, erkannte ich wieder; Wege in die ebenfalls erst in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte Forschung zu Phänomenen transgenerationeller Übernahme von Traumata und zu Phänomenen wie postmemory öffneten sich.

 

Seit ich an dem Roman schrieb und manchmal von meinem Thema erzählte, hörte ich Geschichten von „seltsamen“ Träumen und Ängsten – Bilder im eigenen Kopf, die als fremd empfunden wurden. Sie stammten aus dem Leben eines Elternteiles. Offenbar werden nicht nur Gewohnheiten, Denk- und Emotionsmuster zwischen den Generationen weitergegeben. Studien zu Kindern traumatisierter Erwachsener sprechen von einem unbewussten „holding“ und „containing“, das Kinder ihren Eltern gewähren: sie spüren deren unaussprechbaren Schmerz, versuchen, die Erwachsenen zu halten und zu unterstützen, ja, „beherbergen“ sie in sich, erleben „an Stelle“, werden als Selbstobjekte funktionalisiert.

Familiäre Weitergabe: zart und brutal.

Verschiebungen des Gedächtnisses, der Psyche, der Seele. Schraffuren (auch) der Sprache. Menschen, denen „es“ den Rahmen verzogen hat. „Es“, das Geschehen – und die innere Beteiligung daran. „Es“: Die Übermacht von außen (gezwungen, bedroht, verfolgt, ausgesetzt) – und die Fragen danach, woher „es“ kam.

Wie, fragte ich mich, sollte es möglich sein, davon zu erzählen?

Irgendwann – seltsames „irgendwann“, wenn ich versuche, mich an Schreibspuren zu erinnern –, fand ich die Lösung. Ich musste einen multi-logischen Roman schreiben. Multi-logisch in der doppelten Bedeutung des Wortes: verschiedenen Lebenswahrheiten folgend, von verschiedenen Seiten her gesprochen.

Als ich las, wie von Ostpolen nach Schlesien vertriebene Polen ihre Erlebnisse sowie ihr Leben nach der sogenannten „Heimkehr“ schilderten, löste sich der Knoten. Die Idee für die Form des Romans kam aus dem Material. Da lebten Menschen aus Lemberg in dem von Deutschen geräumten Wrocław und sehnten sich in die Heimat zurück, mit Bildern, Schmerzen und Liebesgefühlen ähnlich jenen, mit denen Flüchtlinge aus Breslau im Westen saßen und in den verlorenen Osten blickten. Überraschender und stärker als die Unterschiede zwischen diesen Menschen waren die Spiegelungen. Die Auswirkungen des Heimat- und damit häufig verbundenen Familienverlustes; die induzierte äußere wie innere Verzogenheit.

Das Thema trifft uns und unsere Nachbarn. Erzählbar wurde es durch eine Kreuzung: im Roman bewegen sich eine polnische und eine deutsche Familie hintereinander her nach Westen, verfolgen sich, ohne sich zu kennen. In einer späteren Generation schneiden sich ihre Wege; bei ihren Kindern führen sie wieder auseinander.

Sowohl bei deutschen wie bei polnischen Zeitzeugen fand ich Spaltungen, Gedanken- und Gefühlsfluchten in nostalgische Vergangenheitsräume, die Weitergabe des Gefühls, selbst falsch zu sein. Ich hörte und las von Verlusten und Abenteuerlust, Aufbruchsnöten und Untergängen, von der Zerschlagung eines kulturell und sprachlich gemischten Raumes, begegnete Leugnung und Sehnsucht, Lüge und Mimikry.

Seltsam distanziert, von Unterbrechungen heimgesucht, durchzogen von Wutausbrüchen, Ängsten, Träumen von Sicherheit.

Noch einmal versuchte ich, mich vor dem Roman in Sicherheit zu bringen. Ich wiederholte die Geste meines Vaters: ich floh vor der Flucht – und unterschrieb einen Verlagsvertrag für einen anderen Roman.

Als ich versuchte, ihn zu schreiben, kam Lilly wieder hervor. Setzte sich auf meinen Schreibtisch, erhob die Stimme. Diesmal hatte sie Emil mitgebracht. Meinen behinderten Onkel, Vaters Bruder, durch die Nazizeit gerettet, auf der Flucht ums Leben gekommen.

Ich gab auf.
Sie waren in der Überzahl, waren stärker als ich.
Im Mai 2012 reiste ich nach Polen.

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Essay (1) https://der-siebte-sprung.de/rendez-vous-7tersprung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=rendez-vous-7tersprung Mon, 03 Mar 2014 08:30:40 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=288 ]]> 1. Rendez-vous

Sich umzudrehen ist gefährlich. Lots Frau erstarrt zur Salzsäule. Sich umzudrehen ist schön: Wer sich dreht, sieht mehr. Liebe Hoffnung Glück. Glückliche Räume. Wie wird etwas gerade, wie rund? Wie hängt man es auf: hält es fest, erinnert sich daran, stellt es dar?
Die Idee, einen Roman zum Thema Flucht und Vertreibung zu schreiben, jenen Weg, auf dem man sich ständig umdreht, ohne umdrehen zu können, einen Roman zu schreiben zu dem Familienthema, das meine Kindheit bestimmte, sprach ich an einem Nachmittag des Sommers 2005 das erste Mal aus. Mein damaliger Lektor und ich gingen die Immanuelkirchstraße in Berlin hinauf. Holpriger Gehweg, Birnbäume, schimmernde Straßensteine. Das „Projekt“ verunsicherte mich: war es eine gute Idee, so biographisch zu werden?
Ulrike Draesner auf der Liebighöhe Bild Horst Konietzny

Meine Romane waren in der dritten Person geschrieben, weiter entfernt von mir. Das „ich“ erschien mir als schwierigste aller Perspektiven. Wie „ich“, ohne ich zu sein, doch mit allem, was ein Ich braucht, um lebendig zu werden?

 

Ich hatte schon angefangen, mich mit diesem Anfang selbst überrascht: mitten im Schreiben eines anderen Romans die Stimme „meiner“ Großmutter gehört und notiert. Die Stimme sprach davon, dass sie sich an den letzten Tag zuhause nicht erinnern konnte; es handelte sich um den 18. Januar 1945 in der kleinen schlesischen Stadt Oels, gut dreißig Kilometer nordöstlich von Breslau. Ich kannte das Städtchen, 1984 hatte ich es mit meinem Vater besucht. Was „meine Großmutter“ nun sagte, hätte sie „im Leben“ nie gesagt. Die Figur, Lilly, rutschte und sprach in Brechungen, ein Balken ragte durch ihr Gedächtnis. Der letzte Tag zuhause: verschwunden. Und sie selbst: aus sich verschoben. Verzogen.

 

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Die Stimme meiner Großmutter-Nichtgroßmutter kam von der Nicht-Erinnerung nicht los. 18 Seiten stürzten aus mir heraus. Dann hörte ich auf.

 

Selbstüberraschungen: die wertvollsten, schlimmsten, seltsamsten Momente des Schreibens? Das Thema lag vor mir, ein kaltes Kapitel meiner eigenen Biographie, undurchdrungen. Meine Vaterfamilie, Lebensfragen bis heute hingen daran (warum verstand mein Vater von manchem so wenig, warum war er deprimiert, schweigsam, eigenbrötlerisch, wer waren seine Dämonen, welche Rolle spielte ich bei seinem Kampf mit ihnen?). Was hatte ich damit zu tun?

Rasch zog ich mich zurück.

 

Während meiner Kindheit hatte ich die Jahre 1933-45 als tief versunkene Vergangenheit wahrgenommen, „der Krieg“ ein Krieg der Großeltern. Schon meine Eltern hatten ihn „nur“ als Kinder erlebt. Erst als ich 30 wurde, dämmerte mir allmählich, wie stark das Bild und die Deformationen einer versehrten Gesellschaft mein Aufwachsen bestimmt hatten. Es war zu erwarten, dass sie untergründig weiterwirkten. Dachte ich an das München der 60er Jahre, sah ich Straßenbahnen mit Sitzplätzen für Kriegsversehrte, verstümmelte alte Männer, die Stöcke schwangen, humpelten, schwiegen. Männer mit Eisenhänden machten mir besondere Angst, ihre Versehrung trat so deutlich zu Tage.

Auch bei anderen, die es nicht körperlich zeigten, war sie zu spüren.
Davon erzählen?
Doch wie?

Ich verschob die Entscheidung, obwohl ich inzwischen wusste, welche Fragen mich umtrieben: Wie wirken Traumatisierungen, wenn Kinder sie erleiden?

Wie geben Menschen weiter, was sie nicht erzählen, nicht aussprechen, oft genug nicht einmal willentlich erinnern können?

(Fortsetzung am 4. März 2014)

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Die Verzogenen. Feature von Horst Konietzny https://der-siebte-sprung.de/die-verzogenen-feature-von-horst-konietzny/?pk_campaign=feed&pk_kwd=die-verzogenen-feature-von-horst-konietzny Sun, 02 Feb 2014 15:57:10 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=260 ]]>

Wie recherchiert man einen Familienroman? Medienkünstler Horst Konietzny begleitete Ulrike Draesner auf ihrer Recherchereise nach Wroclaw und gestaltete für den NDR das Feature „Die Verzogenen“ (der ursprüngliche Titel des Romans).

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