Monthly Archives September 2014

Zugfahren (3)

Halkas erster Morgen in Wrocław, Ende Mai 1945 Sonnenstrahlen brachen durch die Ligusterhecke, Vögel warfen sich aus der halb verbrannten Kastanie ins Gebüsch. Ein weißes Netz Tau lag auf den Grashalmen, in der diesigen Luft hingen Rauchwolken. Sie zogen Richtung Westen, Richtung Westen blase der Wind hier am liebsten, hatte der Junge gestern Abend gesagt. Sein Wachplatz am Gartentürchen war leer. Egal. Die niedergebombte, staubige Stadt, das Ziel von drei Wochen Fahrt – eine Enttäuschung, egal. Trotzig und deutsch, Trümmerwelt. In Trümmerwelten schien die Sonne, das lernte ich rasch, gnadenlos, ihr Licht vermehrte sich tausendfach an den Partikeln der Luft,
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Zugfahren (2)

Lilly erinnert sich Drechslers hatten uns ein Stück mit ihrem Holzvergaser mitgenommen, drei Kilo Holz ersetzten einen Liter Benzin, statt zu fallen, schienen die Flocken auf der Stelle zu schweben, so gleichförmig, dass der Wagen ins Endlose rollte dann torkelten sie zur Erde, Motorschaden, die letzten fünf sechs Kilometer waren wir gelaufen, die dicken, verschneiten Bäume, der Puusch, minus 20 Grad, wer konnte das erschleppen hohe Tannen und Buchen, Untergehölz, Emil humpelte schrecklich trotz des Maßstiefels aus Prag, Sonderanfertigung aus der Zeit vor dem Krieg, auf der anderen Seite glich ein ebenso maßgefertigter weibisch hoher Schuh den Unterschied der Beinlängen
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Spree

An die Spree reist keine der Figuren in meinem Roman – wohl aber hat meine Recherche zu den Sieben Spüngen mich auf unerwartete Weise nahe an die Stadt geführt, in der ich seit 18 Jahren lebe. Ich entdeckte, dass der Vater meiner (väterlichen) Großmutter in Erkner zur Welt kam. Landkreis Oder-Spree. Aufgewachsen bin ich an einem kleinen Fluss, der Würm, die in die Isar mündet, die in die Donau mündet, die ins Schwarze Meer fließt. Nun lebe ich in der Nähe eines Gewässers, das sich ebenfalls in west-östlichen Mischlandschaften bewegt. Spree, die Sprühende, sagen die Etymologen. Sie nehmen eine Abstammung
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Zugfahren (1)

Simone denkt an Eustachius Typisch. Stets in Bewegung, der Mann, selbst wenn er saß, und er wollte viel sitzen, weil so die Bewegung gezähmt war, er liebte es, an einem festen Punkt zu verharren, während er sich bewegte, also fuhr er mit dem Auto zu seinen Kongressen, während in der Bahn alles in ihm nur noch stärker in Unruhe geriet, er im Zug auf und ab lief, obwohl sich der Zug ohnehin bewegte, die Mitreisenden bemerkten es natürlich und sahen ihm die mangelnde Sesshaftigkeit an. Wir Kinder hatten das nicht, „wenigstens haben die Kinder das nicht“; man verbot uns das
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Rahmen

Rahmen: von mittelhochdeutsch rame, „Stütze, Gestell“, althochdeutsch „Stütze, Säule“. Im germanischen Sprachgebrauch eng verwandt mit Einfassung und Rand.
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Es spricht: Halka

Ich erzählte niemandem von ihm, nicht einmal Mamuśka, die, kaum 40 Jahre alt, noch immer schön, zunehmend einem traurigen Esel glich. In Lemberg hatte man uns oft für Schwestern gehalten, in Wrocław kam niemand mehr auf diese Idee. Die rasch ergrauenden Haare zu beiden Seiten glatt und lieblos nach unten gekämmt, saß sie in unserem postdeutschen Ohrensessel, sagte »Halinka« und streichelte mir über die Wange, hielt in der anderen Hand den Rosenkranz. Ich versuchte, sie für die neue Stadt zu begeistern; sie bat mich, bei ihr zu bleiben und erzählte mir, die Möbel der Schönfließers stünden zwar jede Nacht reglos
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Es spricht: Jennifer

Boris, den Ausdruck abgeklärter Geduld im Gesicht, den er sich während meiner Pubertät zugelegt hatte, schaute mich nur an. Müde und – vergnügt. Dann begann er zu reden, als wäre nichts, unversehens kam die ebenfalls abgebildete Grolmanntochter ins Spiel, er betrachtete das Foto eingehend, und seine Stimme wurde wärmer und wärmer, und je wärmer sie wurde, umso elender fühlte ich mich. Da war es, das ungeheuerlich starke und schmerzhafte Band. Seelenband! Haben das alle Kinder und Eltern zwischen sich? Mit 14 hatte ich es zum ersten Mal als etwas wahrgenommen, was eine grausame Macht, die sich nicht im Geringsten um
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le Son du Cor

le Son du Cor: bezogen auf das Gedicht Le cor (Das Jagdhorn) des romantischen französischen Dichters Alfred de Vigny (1797-1863). Die erste Strophe lautet: J‘aime le son du Cor, le soir, au fond des bois, Soit qu‘il chante les pleurs de la biche aux abois, Ou l‘adieu du chasseur que l‘écho faible accueille, Et que le vent du nord porte de feuille en feuille. Bild:« Poemes Vigny 1829 » par Tony Johannot (1803-1852) — http://pagesperso-orange.fr/aaav.site/index.htm. Sous licence Public domain via Wikimedia Commons.
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