Kind – Sieben Sprünge vom Rand der Welt https://der-siebte-sprung.de Ulrike Draesner Thu, 02 Oct 2014 07:55:15 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 63645751 Hannes erinnert sich (1) https://der-siebte-sprung.de/hannes-erinnert-sich-1/?pk_campaign=feed&pk_kwd=hannes-erinnert-sich-1 Thu, 02 Oct 2014 07:55:15 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=1037 ]]>

Adler trumpf Junior Blau“ von de:User:Stahlkocher – photo taken by de:User:Stahlkocher. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

Für ihn, den Kranken, gab es einen neuen Arzt in Breslau, Dr. Winsch. Er sagte, Emils linke Gehirnhälfte sei defizitär, der Klumpfuß müsse als Symptom einer größeren Schwäche des Erbgutes gelten. Diese Schwäche greife in Emil um sich. Die Behinderung werde zunehmen, Jahr um Jahr, was sage er, Monat um Monat: bis das Kind nicht einmal mehr humpeln können werde, nicht mehr artikulieren, nur sabbern, einkoten, schreien. Dr. Winsch hatte leise gesprochen, mit sachlichem Blick auf Emil. Unvermittelt wurde seine Stimme forscher, nein, froher: Man müsse untersuchen, wie das geschehe! Was als lebenswert gelte, was nicht. Ob wir ein weiteres Kind wollten? Dringend rate er ab, ja, meiner Frau empfehle er eine Sterilisation.
Ich sagte, wir hätten einen zweiten Sohn, blauäugig, blond, gesund, da sagte er: »Sehen Sie!«, als hätte er Recht gehabt.
Eine Zeit lebten wir sorglos. Emil, der sich immer warm anfühlte, Emil, unser kleiner Ofen, saß auf dem Teppich, die Katze auf dem Schoß. Auch sie mochte, was er ausstrahlte. Weniger als je zuvor wussten wir, wie ihm helfen, wir unternahmen nichts mehr, hielten ihn im Haus, hatten, wie sich später offenbarte, mehr Glück als Verstand. Mein Ältester spielte vor meinem Schreibtisch, ich saß und beantwortete Briefe. Blickte ich auf, ließ er Zinnsoldaten in einen Eimer fallen, betrachtete ein Tierbuch und versuchte, danach zu zeichnen. Emil. Sein Name erinnerte an »lieb«. Da saß der Liebe auf dem Teppich, hielt den Klumpfuß schief von sich gestreckt und lächelte still und geheimnisvoll wie ein Junges im Wald.
Ich spürte, dass ich ebenso zurücklächelte. Dabei konnten Erwachsene das gar nicht. Nur Emil hatte die Kraft, diesen Ausdruck in meinem Gesicht hervorzulocken. Bei einer Hirschkuh hatte ich einmal beobachtet, wie selbstvergessen ein Tier sein Junges anzusehen vermag. Ich fühlte mich berührt und in den Augenblick gelöst. Auch Max-der-Dritte schien um Emils besondere Fähigkeiten zu wissen, er folgte ihm überallhin, gegen Dackelart. Mit seinen krummen Beinen passte er zu unserem Kind, nebeneinander hertrippelnd legten beide auf gleiche Weise den Kopf schräg, als lachten sie beim Blick aufeinander über einen nur ihnen bekannten metaphysischen Witz.
Kinder wie ihn, sagte meine Mutter Klara, hatte es immer gegeben. Und schlimmere. Emil sei anhänglich, bemüht, still, wir sollten zufrieden sein. Und wirklich, er zeigte keinerlei Launen. Schrieb er einen Brief, klemmte er vor Konzentration die Zungenspitze zwischen die Zähne, runzelte die zarte Stirn mit Lillys fast durchsichtiger Haut. Schreiben liebte er, wenn es ihm auch schwerfiel; er notierte einzelne Sätze über Tiere und später über die SS. Die für mich bestimmten Briefe musste ich ihm vorlesen, das Blatt dann zurückgeben. Es berührte mich, wie das Kind kämpfte und dabei an mir hing.
Emil weckte eine weiche Seite meiner Männlichkeit, einen nachgiebigen Stolz. Männer wissen nicht, was Liebe ist, bis sie eine Tochter haben, behauptete Julius. Andere nickten, ich schwieg. Männer liebten nicht, bis sie ein besonders zu beschützendes Kind bekamen. Sein Geschlecht war unerheblich.

Für Eustachius galten andere Pläne. Er war der Stammhalter, lang und zäh schon als Neugeborener. Wir fragten uns, woher er das hatte. Perfekte Gelenke, die Glieder äußerst gerade. Und wie er die tiefblauen Augen aufschlug.
Hübsch. Und von weit her.
Vielleicht, weil Emil mich besetzt hielt, vielleicht, weil ich so stark wollte, dass aus Eustachius, dem Gesunden, etwas werde, weil ich mich bei ihm für ein gelingendes äußeres Leben verantwortlich fühlte, wurde ich streng.
Auch dabei dachten wir noch an Emil. Eustachius sollte ihn versorgen können, wenn Lilly und ich einmal nicht mehr waren.
Das bürdeten wir unserem Jüngsten auf.
Wir versuchten, ihn darauf vorzubereiten: Dein Bruder, er ist dein Bruder.
1935 oder 1936 kehrte die Angst zurück. Dr. Winsch, inzwischen Oberarzt am Krankenhaus Breslau-Nord, wollten wir nie mehr sehen – wir wurden einbestellt. Mutter kannte die Sprechstundenhilfe, griff zum Telefon. Das Wort »lebenswert« hörten wir nun regelmäßig, ein offizielles, hochwichtiges Wort. Emil trug Maßschuhe aus Prag, außen klobige Stiefel, innen perfekt angepasst. Er konnte sich selbst die Schleife über der langen Zunge binden, manchmal lachte er dazu, manchmal sah er traurig auf die Beine seines Bruders, rief ein »Stächel« oder »Stach«, flüsterte »kimm her ze mer«, und der Kleine rannte johlend vor ihm davon, berauscht von dem eigenen, leichten Sieg. Die Sohlen des Schuhs für den kranken Fuß waren anfangs 1,3 Zentimeter höher als links, dann 2,1 Zentimeter, schließlich 3,8. Julius und Feli bekamen ein drittes gesundes Kind.
Um Emil fürchteten wir. Die Angst um ihn und das Glück mit ihm steckten erneut wie Zapfen in uns.

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Es spricht: Esther https://der-siebte-sprung.de/es-spricht-esther/?pk_campaign=feed&pk_kwd=es-spricht-esther Mon, 08 Sep 2014 07:27:07 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=904 ]]> Stammbaum_01_0004
Das Arrangement brachte uns über die nächsten Wochen. Ende November fiel Stach die Stufen an seiner Haustür hinauf. Hinauf, nicht hinunter.
Stufen. Exakt zwei.
Hundertausendmal war er über sie gestiegen. Er hatte in den Briefkasten sehen wollen, brach sich den linken Unterschenkel, verstauchte sich die linke Hand und befand sich im Krankenhaus, als ich davon erfuhr. Mercedes hatte ihn gefunden. Er war nicht im Regen gelegen und hatte sich nicht erkältet, obwohl er stark unterkühlt war, als man ihn abtransportierte.
Erstaunlich rosig lag er, frisch operiert, im Krankenbett. Ein offener Bruch. Die Ärzte befürchteten Infektionen.
Großvater hing am Tropf.
Man hatte ihm ein Einzelzimmer gegeben. Er hatte gleich bei der Aufnahme erzählt, dass er fürchterlich schnarche. Und einen Mittagsschlaf hindurch geschnarcht.
Das war mir neu.
Er grinste.
Er war wie ein Kind. Sichtlich stolz auf seine Schläue. Stolz darauf, wie er die Pantoffeln unterm Bett versteckte, damit die Krankenschwester die Pfanne anschleppte, und er nicht aufstehen musste.
Mutter reiste unverzüglich an, ich war froh darüber. Sie brachte ihm fünf verschiedene Rezepte für schlesischen Streuselkuchen mit, aus dem Netz.
»Sind die auch echt?«, fragte er.
Jeden Tag buk sie ihm einen der Kuchen in seiner echten Küche zuhause. Nachmittags holte sie mich im Zoo ab; bei Opa aßen wir zusammen Probe.
Stach kontrollierte, ob die Stücke exakt rechteckig geschnitten waren. Treuherzig sah er uns an: Er schmecke den Unterschied. Hundertprozentig!
»Dabei ziehst du ein perfektes Montygesicht, hundertprozentig«, sagte Mama, und es entspann sich ein für uns ungewöhnliches Gespräch, natürlich und friedlich floss es dahin. Opa thronte in seinem Bett; er hatte sich nach Simas Ankunft unverzüglichzum Krankenhausfriseur fahren lassen, sich mit Hilfe eines Handspiegels selbst rasiert und trainierte, sagte er, jeden Tag. Er hatte eine halbe Stunde Physiotherapie. Darüber, dass er sich kein Äffchen halten könne, wolle er nicht klagen, in den Kongo umsiedeln werde er deswegen auf keinen Fall: »billige Pflege, verdammtes Wetter«. Und das Kind, Esther, hier, sagte er, das gehe nicht, er passe auf mich auf! Er, sagte er und rieb sich die Nase, komme perfekt allein zurecht: Weiterhin! Perfekt!
Auch wenn er sich zuweilen benehme wie eine Prinzessin auf der Erbse.
Doch, doch, rief er zufrieden in unsere erstaunten Gesichter, er liege auf Streuselkrümeln und beschwere sich nicht, er liege auf dem zerkrümelten Schlesien, dem schlesischen Himmelreich und lache darüber, das könnten wir ruhig genießen, mit ihm.
»Kriegt er Pillen?«, fragte Sima, als wir uns vor dem Haus trennten.
Ich war mir sicher, dass er nichts nahm. Da lag er und wurde versorgt, es bekam ihm vorzüglich, und sein Schalk, der sich früher nur den Affen und mir gegenüber hervorgewagt hatte, kroch nun auch in Gegenwart anderer Menschen aus ihm heraus. Das Glück hatte Opa eingeholt, wenn ich auch zweifelte, ob er es bemerkte, er sagte nur, wie er seit Jahren sagte: »Als alter Mann werde ich glücklich sein«, und grinste: »Een aaler Moan bin iech noch lange nich.«

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Springginkerle https://der-siebte-sprung.de/springginkerle/?pk_campaign=feed&pk_kwd=springginkerle Fri, 05 Sep 2014 08:07:58 +0000 https://der-siebte-sprung.de/?p=885 ]]> Exif_JPEG_PICTURE

Springginkerle: schlesisch für „hüpfendes Kind“

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